Theorie & Praxis

Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass ich bisher weder erst volles theoretisches Verständnis für eine Sache hatte und dann in die Praxis ging bzw. volles Können aber kein Verstehen hatte.

Theorie und Praxis bedingen sich immer gegenseitig. Manchmal hilft es mit einem gewissen Vorwissen an neue Themen heranzugehen, manchmal kann man sich durch spielerisches Ausprobieren zuerst in ein neues Gebiet einfühlen um dann die theoretischen Grundlagen nachzulernen.

Theorieerklärungen fallen auf fruchtbareren Boden wenn ein gewisses praktisches Fundament besteht und umgekehrt. Beide Elemente synergetisieren im Sinne eines Hermeneutischen Zirkels.

Ich habe mir diesen Begriff aus den Geisteswissenschaften ausgeborgt und denke nicht daran ihn wieder zurück zu geben. Wer physiotherapeutische Übungen macht, Kampfkunst oder einen anderen Sport betreibt kann mit dem Hermeneutischen Zirkel gefühlsmäßig viel anfangen.

Der Zirkel müsste eigentlich als Spirale bezeichnet werden, die entspringt und sich ausdehnt, sich ständig erweitert. Der Punkt, an dem sie entspringt, bezeichnet den Augenblick an dem man sich beginnt für eine neues Thema zu interessieren oder es gleich auszuprobieren.

Beispiel:
Sie haben von einer Ihnen unbekannten Therapieform namens „Pilates“ in einem Sportmagazin gelesen. Die Erklärungen und Bilder sagten Ihnen zu, sie haben den Begriff gegoogelt, haben ins YouTube geschaut, einige Videos entdeckt und unter anderem ein Video für Anfänger gefunden, das Sie nun gleich am Teppich vor dem Computer ausprobieren. Der  erste Versuch war noch etwas wackelig, die Erklärung mit der Bauchspannung klang am Computer noch so klar, die Bewegung sah so einfach aus, aber irgendwie klappt es nicht so recht. „Hat der zuerst das  rechte oder das linke Bein gehoben“ denken sie vielleicht. Der Weg führt sie recht schnell wieder an den PC zurück, sie wiederholen das Video bis sie sich sicher sind, probieren es wieder aus, es geht besser, nochmals Video ansehen, nochmals probieren usw. Pilates gefällt ihnen, sie gehen zu Ihrem Physiotherapeuten oder melden sich zu einem Pilateskurs an, der Trainer erklärt, zeigt vor, sie machen nach, schauen, werden korrigiert usw. Plötzlich machen frühere Erklärungen mehr Sinn und wenn sie sich vielleicht wiedermal Ihr Video ansehen werden sie es sehr gut beim ansehen schon nachvollziehen können, die Spannungen fühlen sie schon beim zusehen und die Worte des Vortragenden fallen nun auf ein tieferes Verständnis.

Der Hermeneutische Zirkel ist ein andauerndes Wachsen von Verständnis und Können, immer im Wechsel.
Ursprünglich in Bezug auf das Verständnis von Texten (wie in der unten gezeigten Grafik),
das Verständnis der Bedeutung von Kunst- oder religiösen Werken in jedweder Kulturellen, Technischen oder bewegunstherapeutischen  Richtung.

Leider beginnt jeder Hermeneutische Zirkel zu verblassen sobald man ihn nicht ständig mit Energie versorgt. Wer andererseits Fähigkeiten und Wissen erworben hat tut sich leichter dieses Wissen wieder aufzufrischen, wenn er es benötigt.

Als zweiten wichtigen Punkt, neben dem lebenslangen Lernen, bezeichne ich die FähigkeitVerbindungen und Assoziationen zwischen unterschiedlichen Themen zu finden.
Wer Gemeinsamkeiten in Lernkontexten unterschiedlicher Bereiche sucht und findet lernt automatisch immer gleichzeitig mehrere Bereiche mit Wissen, Verständnis und Können auszufüllen.

Beispiel:
Ich beschäftige mich mit Lern- und Mnemotechniken,  spiele Gitarre und Klavier und gehe gerne Spazieren oder Laufen. Jede Tätigkeit für sich stellt andere Anforderungen an mich. Eine Verbindung zu suchen und während des Laufens sieben Orte auf meinem Weg zu passieren an denen ich im Geiste die Noten C bis H als Ganztöne oder vielleicht sogar auf  elf Orten die Ganz- und Halbtöne ablege und mir den Griff auf der Gitarre und am Klavier dazu denke verbindet alle drei Tätigkeiten.
Dieses Beispiel zeigt nur die Verbindung von Tätigkeiten um einen Synergieeffekt zu erzeugen, noch nicht das Erkennen von Prinzipien, die fächerübergreifend  existieren, was ich als noch größere Kunst betrachte.

Lernen, Lernen durch Lehren, Verstehen, Beherrschen, Neues im Altbekannten entdecken, Prinzipien entdecken, erweitern, verändern, eigene Regeln aufstellen, diese wieder auf neue Impulse anpassen usw. führt im Laufe der Zeit zu einem weitgreifenden Verständnis der Themengebiete und ermöglicht es uns auch schneller Neues in unser bestehendes Wissensnetz einzugliedern.
Dabei ereignet sich immer wieder der oft Rasche Sprung zwischen Theorie und Praxis und die Grenze zwischen den beiden verschwimmt immer mehr.